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Vom Freiheitssymbol zum profanen Suchtmittel

Ausgabe Nr. 100
Sep. 2013
Lebensstil und Gesundheit

Rauchen und Gesellschaft. Noch vor wenigen Jahrzehnten war das Rauchen völlig normal. Es wurde nicht nur akzeptiert, sondern als «Fackel der Freiheit» geradezu zelebriert. Heute weht der Wind der Freiheit aus der anderen Richtung: Wer sich frei fühlen und das Leben geniessen will, raucht nicht.

Der weltweite Siegeszug des Tabakkonsums begann mit der industriellen
Zigarettenproduktion in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit dem plötzlich überall erhältlichen, konsumbereiten Tabak stieg die Zahl der Raucher drastisch an. Bis in die 1920er-Jahre rauchte allerdings noch fast niemand in Gaststätten. Das änderte sich, als die Tabakindustrie begann, das Rauchen als eine Art Dessertersatz zu bewerben, was vor allem figurbewusste Frauen zum Griff zur Zigarette verführte. Im Zweiten Weltkrieg verlor die Zigarette den Glamour des frühen 20. Jahrhunderts. Stattdessen wurde sie aber zum Symbol des Trosts und zum Strohhalm im Sumpf des Kriegselends hochstilisiert. Nach 1945 qualmte ganz Europa. Die Emanzipation verstärkte den Rauchtrend unter den Frauen weiter, denn das Rauchen stand scheinbar für all das, was die Frauenbewegung einforderte: Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und den Vorstoss in eine Männerdomäne.
Verantwortlich für diese vernebelte Sicht auf das Rauchen waren die Verheis­sungen einer gewaltigen Tabakwerbemaschinerie. Jahrzehntelang versprach sie den Raucherinnen und Rauchern Freiheit und die Coolness einer Marlene Dietrich oder eines James Dean.

Von der Verklärung zur Klarsicht
In den 60er-Jahren kamen mit den medizinischen Erkenntnissen zum Rauchen erste Bedenken und Warnungen auf. Das war der Anstoss zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Das positive Image der Zigarette begann zu bröckeln, der Marlboro Man wurde als Nikotinjunkie entlarvt. Wer raucht, gilt nicht mehr als Individualist, sondern als Marketingopfer.
«Wir beginnen, jenes Trugbild zu zerschlagen, das die Industrie über Jahrzehnte aufgebaut hat: dass Tabak unmittelbar mit den schönen Dingen des Lebens verknüpft sei, mit Sportlichkeit, Abenteuer, Männlichkeit, gesellschaftlichem Status», sagt Armando Peruga in einem Interview mit der Zeitschrift «NEON». Armando Peruga ist Leiter der «Tobacco Free Initiative» der WHO mit Sitz in Genf. Er sieht vor allem zwei Gründe für den Imagezerfall des Rauchens: «Wenn sich die Botschaft verbreitet, dass Nichtrauchen der Normalzustand ist, verbunden mit Werbeverboten, dann entsteht in der Summe der Eindruck: ‹Rauchen ist nicht cool›».
 
Ein gesellschaftlicher Lernprozess
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat ein beachtlicher gesellschaftlicher Veränderungs- und Lernprozess stattgefunden. Dieses von der Tabakprävention angefachte Umdenken hat zu einem tiefgreifenden Wertewandel geführt. Auch wenn Tabakbefürworter immer noch versuchen, das Rauchen mit «Freiheit» zu verknüpfen – etwa bei der eidg. Volksabstimmung «Schutz vor Passivrauchen» im Herbst 2012 –, setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch: Wahre Freiheit heisst «frei vom Rauchen».
Mehr als drei Viertel der europäischen Länder haben inzwischen Rauchverbote oder Werbebeschränkungen eingeführt. Den Anfang machte Irland, das 2004 als erstes Land weltweit ein Rauchverbot in öffentlichen Innenräumen erliess – gegen gewaltige Widerstände der Gastwirtelobby, die einen massivem Umsatz- und Arbeitsplatzverlust prognostizierte. Doch diese Befürchtungen erwiesen sich als nichtig: Die irischen Pubs sind beliebt wie eh und je. Dank der Rauchverbote kommen jetzt sogar vermehrt auch Familien mit Kindern in die Pubs.
Auch in der Schweiz ist die Bevölkerung den Raucheinschränkungen mehrheitlich gut gesinnt. Selbst die Raucherinnen und Raucher sprechen sich für Beschränkungen aus. Gemäss dem Suchtmonitoring Schweiz befürworteten im Jahr 2011 71% der Rauchenden in der Schweiz ein generelles Rauchverbot in Restaurants, Bars und Cafés.
Die Rauchschwaden haben sich heute also weitgehend verzogen, nicht nur von den Kinoleinwänden und Bildschirmen und aus den Restaurants und Cafés, sondern auch aus den Köpfen der Menschen. Die meisten Menschen sehen heute klar und sind sich bewusst: Rauchen ist weder cool noch lustvoll, Rauchen ist eine tödliche Sucht.

Jährlich 9000 Tote
Und an dieser Wahrheit gibt es nichts zu beschönigen. Die Zigarette ist das einzige Konsumgut, das bei der dafür vorgesehenen Verwendung tötet. Der Historiker Robert Proctor drückt es in einem Interview mit dem Zürcher «Tagesanzeiger» noch drastischer aus: «Würden Zigaretten heute erfunden, wären sie mit Sicherheit illegal.» In der Schweiz sterben jährlich über 9000 Menschen am Tabakkonsum. Zudem verursacht Rauchen jährlich über 10 Milliarden Franken an Sozialkosten, also Kosten für medizinische Behandlungen, Er­werbs­ausfallkosten sowie Kosten, die durch den Verlust an Lebensqualität entstehen.
Zigaretten enthalten 200 giftige und 40 krebserregende Stoffe, darunter radioaktives Polonium, Blei und Arsen. Bis zu 90% der Lungen-, Mundhöhlen-, Kehlkopf- und Bronchienkrebserkrankungen gehen auf das Rauchen zurück. Raucherinnen und Raucher haben ein zehnmal höheres Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Da helfen auch keine Zigarettenfilter; sie sorgen lediglich dafür, dass der Rauch langsamer in die Lungen dringt oder mit Luft verdünnt wird. Trotzdem wird aber die ganze Zigarette geraucht, die Gesamtdosis für den Körper bleibt gleich. Auch die Fakten zum Passivrauchen sprechen eine deutliche Sprache. Passivrauchen erhöht bei Erwachsenen das Risiko von Asthma um 100, von Lungenkrebs um 24, von Schlaganfall um 80 und von Herzinfarkt um 25%. Bei Kindern sind die Auswirkungen noch gravierender.

Nichtrauchende sind Genussmenschen
Angesichts dieser Zahlen erscheinen Kritiken, die Tabakprävention als genussfeindliche Gesundheitshysterie abtun, fast zynisch. Der neue Trend zum Nichtrauchen und die Tabakpräventionskampagnen sind nicht Ausdruck eines modernen Puritanismus, bei dem jeder Genuss als gesundheitsschädigend oder zumindest als suspekt gilt. Menschen, die das Rauchen aufgeben, sind weder Opfer einer gesellschaftlichen Bevormundung noch plötzliche Genussverächter.
Im Gegenteil: Wer das Rauchen aufgibt, gewinnt an Lebenslust und -qualität. Sind die Entzugserscheinungen einmal überwunden, berichten die meisten Ex-Rauchenden über mehr Vitalität, eine intensivere Sinneswahrnehmung und ein neues Freiheitsgefühl. Sie sind nicht mehr Sklave der Sucht, können wieder freier atmen und sind befreit vom ständigen Gedanken an die nächste Zigarette, von der Suche nach einem Kiosk oder Feuerzeug oder vom Gang zu einem Ort, wo sie rauchen können.

Rauchkultur ist noch nicht tot
Heute liegt die Rauchkultur in den Industrieländern anscheinend in den letzten Zügen, doch tot ist sie noch lange nicht. Das Rauchen ist in der Schweiz immer noch relativ stark verbreitet. Im 2011 rauchten 24,8% der Wohnbevölkerung. Der Trend zeigt über die letzten zehn Jahre einen leichten Rückgang. Bei Jugendlichen liegt der Raucheranteil bei 22,5%. Von einer rauchfreien Gesellschaft kann also keine Rede sein, und sie ist auch nicht das Ziel des Nationalen Programms Tabak. Bis Ende 2016 wird eine Senkung des Raucheranteils in der Gesamtbevölkerung von aktuell 24,8 auf 23% angestrebt. Dahin ist es noch ein weiter Weg, auch wenn das Nichtrauchen zum gesellschaftlichen Normalzustand geworden ist.

Kontakt

Joëlle Pitteloud, Leiterin Sektion Tabak, joelle.pitteloud@bag.admin.ch

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